Piotr Anderszewski hasst das Mittelmass, er will immer um sein Leben spielen.
Wenn Piotr Anderszewski am Klavier sitzt, spielt er am liebsten um sein Leben. «Wenn ich ein Stück erarbeite, ist der Flügel meist ein Fremdkörper», sagt der polnische Pianist, «aber während des Spiels beginnt das Instrument irgendwann zu leben. Dann kann es sich schon mal in ein schwarzes Monster verwandeln, das sein Maul aufreisst, und die Tasten werden zu tanzenden Zähnen. In diesem Moment bekomme ich zuweilen Angst, dass mich mein Klavier frisst.» Piotr Anderszewski geht meist aufs Ganze, vom Mittelmass hält er nichts. Am Anfang seiner Karriere, 1990, sorgte er für Aufsehen bei einem Klavierwettbewerb in Leeds. Er kam bis ins Finale, wurde von Publikum und Jury bereits als heimlicher Sieger gefeiert. Aber dann stand er mitten im Spiel auf, verliess die Bühne und verschwand hinter den Kulissen. Anderszewski war mit seinem eigenen Spiel unzufrieden, und einen Preis für Mittelmass wollte er nicht.
Anderszewski wurde in Warschau geboren, studierte an der Chopin-Akademie, ging nach Strassburg, Lyon und Kalifornien. Die «New York Times» nannte ihn einen «polnischen Punker». Aber seine Anarchie schlägt leise Töne an. Der manische Perfektionismus mag an Glenn Gould erinnern, der weiche, geistdurchströmte Ton, den Anderszewski pflegt, eher an seinen Lehrer, den amerikanischen Piano-Weisen Murray Perahia. Und doch hat sich Anderszewski längst von fremden Stilen emanzipiert. Er ist ein Eremit am Klavier geworden, ein Künstler mit eigener Vision: «Musik ist meine Heimat », sagt er. Anderszewski verweigert sich gern der Realität und ersetzt sie durch die Wahrhaftigkeit der Musik. Auf dem Konzertpodium wie in seiner Wohnung. Diese lag lange im edlen sechsten Arrondissement in Paris, direkt an der Seine, gegenüber dem Louvre. Auf nur 50 Quadratmetern fanden sich hier ein Flügel, ein Mountainbike, ein Gummibaum und eine Matratze. Mehr brauchte Anderszewski nicht. Der Abwasch in der Küche schien sich ebenfalls von selbst aufzulösen, wenn er mal wieder allein war. Allein mit der Musik.
«Ein Flügel, ein Mountainbike, ein Gummibaum und eine Matratze – mehr brauchte Anderszewski nicht.»
Oft deutet Anderszewski seine Solo-Programme vor einem Konzert nur an – am Abend spielt er dann, was er für richtig hält. Er ist überzeugt, dass Musik auch etwas mit der Stimmung des Musikers zu tun hat. Wenn er nun allerdings zum ZKO kommt, ist das anders. Dann stehen unter anderem Mozarts Klavierkonzerte KV 414 und KV 453 auf dem Programm, eines der frühen Wiener Konzerte, in denen die Solo-Stellen im Vordergrund stehen, und ein spätes, in dem Mozart dem Orchester eine grössere Rolle zugedacht hat – besonders bei den Bläserparts. Nachdem Anderszewski lange Bach, Chopin und Gegenwartskomponisten gespielt hat, zeigt sich, dass seine Musik-Philosophie der Offenheit während des Spiels besonders gut zu Mozart passt. «Bevor ich beginne, weiss ich genau, wie das Gerüst aussieht», erklärt der Pianist. «Die Form gibt den Raum vor, in dem ich mich bewege. Der Rest allerdings ist eine eher spontane Reaktion, die Frage, wie ich von einem Ton zum nächsten komme und die Zwischenräume fülle – das entscheidet sich am Abend.» Und dabei spielt natürlich auch das Orchester, mit dem er gemeinsam auftritt, eine grosse Rolle. Das ZKO mit seiner kammermusikalischen Erfahrung und seiner grossen Mozart-Tradition dürfte Anderszewski inspirieren, wenn es darum geht, das grosse schwarze Monster in die Freiheit zu führen.
Visuelle Orientierung
Während das ZKO Franz Schrekers Intermezzo op. 8 spielt, wird man sehen können, was man hört. Möglich wird dies durch sogenannte Music Animation. Der Schweizer Etienne Abelin von Music:Eyes, der mit dem Music-Animation-Erfinder Stephen Malinowski zusammenarbeitet, nutzt gern einen Vergleich: «Stellen Sie sich vor, sie sitzen in der Nacht im Auto, landen irgendwo in einem fremden Industriegebiet, ohne Verkehrsschilder, und Sie verlieren alle Hoffnung, jenen Ort zu finden, an dem vielleicht jemand auf Sie wartet, sagen wir mit einer heissen Schokolade. In diesen Momenten wünschen Sie nichts mehr als Orientierung.» Abelin beobachtet diese Sehnsucht nach Orientierung auch in der klassischen Musik. «Viele Menschen suchen nach Hilfe, weil sie sich in der Musik verloren fühlen. Und für genau diese Menschen haben wir nach einer Lösung gesucht, die das komplexe Geflecht einer Komposition leicht verständlich macht.»
Das Ergebnis ist nicht nur unendlich klug, sondern auch ästhetisch: Während die Musik spielt, erzeugt die Music Animation Machine eine animierte Partitur. Die einzelnen Noten werden im Zeitverlauf durch farbige Muster illustriert. So hat das Auge die Möglichkeit, zu sehen, was das Ohr hört: Wie viele Instrumente spielen, wie interagieren sie, wie entwickeln sich Formen und Motive? «Musiker brauchen oft ein ganzes Leben, um musikalische Strukturen und Konstruktionen zu durchdringen», schwärmt Musiklehrer James Isaacs von der Zürcher Hull’s School. «Mit der Music Animation Machine wird dieser Prozess für jeden innerhalb von Sekunden klar, ja, während die Musik noch spielt.» Gemeinsam mit dem ZKO kann das Publikum bei diesem Konzert also besonders tief in die Welt der Klänge abtauchen. (Texte: Axel Brüggemann)
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