Der Organist Cameron Carpenter definiert sein Genre neu.
Nun spielt er mit dem ZKO – ein Porträt.
Wenn Cameron Carpenter die Geschichte seines Lebens erzählt, hört sich das ein bisschen an wie der Comic eines Superhelden. Auf YouTube zeigt der Organist gern seinen von Liegestützen, Pilates und Yoga gestählten Oberkörper und erzählt die Geschichte vom Kind als Genie: Sohn eines Ofenmachers aus dem 13 000-Einwohner-Kaff Meadville in Pennsylvania, wo auch Sharon Stone herkommt. Schulbesuch? Fehlanzeige! Carpenter verbrachte seine Jugend in der Ofenbauerwerkstatt seines Vaters, die in seinen Erzählungen einem mythologischen Schauplatz nahekommt: «Um mich herum schlugen die Männer das Eisen», erzählt er, «und ich wollte sie unterhalten – laut, lauter, am lautesten.»
Dafür stellten die Eltern dem Kind eine Hammond-Orgel aus den 30er-Jahren in die Schmiede. Carpenters Werkzeuge hiessen Bach, Chopin und Buxtehude – mit ihnen hämmerte er gegen Amboss, Metall und Schweiss. An diesen Komponisten konnte er seine überschüssige Energie loswerden, in ihnen suchte er seine Sehnsüchte, sie retteten ihn vor dem Alltag. Und er wurde besessen von der Idee, für sie die Welt zu revolutionieren. Auf jeden Fall die Welt der biederen Orgelmusik.
«Ich wollte sie unterhalten – laut, lauter, am lautesten.»
Carpenter erfand ein Instrument, das alle Dimensionen sprengt: Seine International Touring Organ ist ein Monstrum mit fünf Keyboards, sechs Subwoofern für den Knalleffekt und einem Speicher, der mit Originalsounds von Hunderten historischer Orgeln vollgestopft ist. Mit ihr reist er um die Welt. Und wenn er mit seinen Füssen auf den Pedalen tanzt und mit den Fingern über die Tasten rast, nimmt er sich die Freiheit, Bachs «Toccata» in eine andere Tonart zu transponieren, einige Akkorde Mozarts auszubessern oder die «Symphonie fantastique» von Berlioz als Soundtrack eines Horrorfilms vorzustellen.
Mit dieser Geschichte ist Cameron Carpenter zum Liebling der Medien geworden. Ein Liebling, der auch optisch für Aufmerksamkeit sorgt. Das gewachste, schwarze Haar ist perfekt gestylt, die Augenbrauen ordentlich gezupft. So stellte sich Carpenter von Beginn an gegen das Klassikklischee und erarbeitete sich einen Ruf als Orgel-Revolutionär, als Schrecken der Musikszene, der mit genialischer Gewalttätigkeit manch ehrenwertes Kircheninstrument durchhämmert und mit seinen Interpretationen dem Musikdünkel eine Absage erteilt.
Man könnte die Geschichte von Cameron Carpenter aber auch etwas anders erzählen, mit Anklängen an Thomas Mann statt Superman. Ein Kaffeehaus in Berlin. Carpenter grüsst in geschliffenem Englisch. Das Lesen hat er zwar nicht in der Schule gelernt, sich seinen Schopenhauer, Kant und Foucault aber selbst angeeignet. Da steht kein Verrückter, sondern ein Bildungsbürger, der sich selbst wie das Eisen im Feuer geformt hat.
Das Punk-Image pflegt er mit Akkuratesse. Dass er die führende Juilliard School in New York besucht hat, unterschlägt Carpenter gern. Vielleicht, weil das Autodidaktische für ihn wichtiger ist. Weil für ihn der Soundtrack zu «Die Schöne und das Biest» ebenso zur Klassik gehört wie die Miniaturen Anton Weberns. Weil Popkultur und das Klassikerbe für ihn in der gleichen Liga spielen. «Mir gefällt es, wenn es unter der Oberfläche Substanz gibt», sagt er, «doch auch das Aussehen ist längst Teil der Kultur.» Carpenter ist ein Pop-Intellektueller, für den die Erfindung gleichberechtigt neben der Wirklichkeit steht und die Bearbeitung des Vorhandenen zur neuen Kunst wird.
«Die Orgel wurde nicht erfunden, um brav zu sein, sondern um das Ungezähmte erklingen zu lassen.»
Was Carpenter hingegen nicht ist, ist ein Hallodri. Das Genie fällt ihm nicht zu. Er ist vielmehr ein manischer Arbeiter, einer, der sein Repertoire ebenso gewissenhaft pflegt, wie er seinen Körper auf Touren bringt. Er kann sich unvorbereitet an jedes Klavier setzen und so ziemlich jede Sinfonie, jedes Kammermusikstück und natürlich jedes Orgelwerk aus dem Effeff spielen. Das Einzige, was er hasst, sind Dogmen. Wenn ihn die Orgelorthodoxen ins Fegefeuer werfen wollen, argumentiert er freundlich, rational und scharf. «Die Orgel», sagt er dann, «ist ein missverstandenes Instrument. Sie wurde nicht erfunden, um brav zu sein, sondern um das Ungezähmte erklingen zu lassen.»
Die meisten europäischen Kirchenorgeln sind für ihn «zur Langsamkeit, zur Trägheit, zur Dummheit» gequält worden. «Dabei ist es mit der Orgel wie mit einem Körper: Er muss trainieren, um fit zu bleiben.» Die Orgel ist für Carpenter ein ausgegliedertes menschliches Organ. Und ja, auch wenn es manche nicht hören möchten: Gewalt, Körperlichkeit und ungezügelte Begierde – all das sind Ausdrücke des Menschen.
Wenn man die Geschichte Cameron Carpenters so erzählt, so zeigt man ihn nicht nur als Rebell, sondern auch als belesenen, strebsamen und klugen Musiker. Vielleicht kennt er keine Grenzen für seine Ziele, wohl aber den Willen und die Disziplin, die nötig sind, um sie zu erreichen. ab
Diesen Beitrag lesen Sie auch im aktuellen OPUS.