Sir Roger Norrington und das Zürcher Kammerorchester begleiten Joseph Haydn auf seiner Reise nach London.

Nachdem Joseph Haydns bisheriger Dienstherr Fürst Nikolaus I. Esterházy de Galantha in Wien gestorben war und die Schlosskapelle aufgelöst wurde, suchte der Komponist einen neuen Markt für seine Kunst: 1790 schloss Haydn daher einen Vertrag mit dem Konzertunternehmer Johann Peter Salomon in London – für zunächst sechs Sinfonien. «Meine anckunft verursachte grosses aufsehen», schrieb Haydn nach Hause, «durch die ganze stadt (…) wurd ich in allen zeitungen herumgetragen: jederman ist begierig mich zu kennen.»

Sir Roger Norrington und das Zürcher Kammerorchester nehmen uns nun mit auf diese legendäre Reise, auf der Haydn zunächst sein noch in Österreich komponiertes D-Dur-Quartett vorstellte. Das englische Publikum war begeistert von der jubelnden Melodie der ersten Geige und gab dem Stück den Spitznamen «Die Lerche», weil man in Haydns Noten den Ruf des Vogels erkannt hatte. Haydn stellte sich in London als Meister der Unterhaltung vor, setzte auf fast schon derbe Bauernmusik im Menuett, liess im Adagio Naturidylle hören und sorgte im letzten Satz für einen lebendigen, gut gelaunten «Rauswerfer».

Die beiden Sinfonien auf dem Programm des Abends zeigen den Kontrast von Haydns London- Reise. Sinfonie Nr. 95 schien bewusst für ein Publikum komponiert worden zu sein, das Haydn allerdings unterschätzte: Es ist die kürzeste seiner Londoner Sinfonien, die einzige überhaupt, die in einer Moll-Tonart steht. Haydn selbst fand sie «sehr delicat», beim Publikum aber fiel das Stück durch. Offensichtlich fühlte es sich unterfordert.

Ganz anders bei der Sinfonie Nr. 98, in der Haydn auf grosse Effekte setzte. Es ist die erste Sinfonie, in der er Pauken und Trompeten verwendete. Die langsame Einleitung verknüpft die Themen miteinander, der expressive zweite Satz lehnt sich an Mozart an, und der lange Schlusssatz begeistert mit einem effektvollen Finale. Das Londoner Premierenpublikum forderte die Wiederholung der beiden Ecksätze, und die Sinfonie festigte Haydns Ruhm in England.

«Sir Roger Norrington liebt es, mit den Augen und den Ohren aus unserer Zeit zurückzuschauen, um in der Vergangenheit Neues zu finden.»

Für Sir Roger Norrington, den einstigen Chefdirigenten des Zürcher Kammerorchesters, sind derartige Programme immer auch eine Art archäologische Expedition. Der Dirigent liebt es, mit den Augen und den Ohren aus unserer Zeit zurückzuschauen, um in der Vergangenheit Neues zu finden. «Unsere Zeit ist sehr von Emotionen gesteuert, und das Wissen spielt nicht mehr unbedingt immer eine Rolle. Wir sprechen ja nicht umsonst von einer postfaktischen Gegenwart», sagt Sir Roger. Für ihn ist Musik ein Mittel, sich diesem Trend entgegenzustellen: «Wir sind, weil es der Job des Musikers voraussetzt, in einer Aufführung stets Teil des Jetzt – gleichzeitig greifen wir auf das Wissen der Vergangenheit zurück.»

Genau das werden Sir Roger und das ZKO nun auch wieder unternehmen. Sie werden ihr Wissen um die Vergangenheit in den Werken Haydns reflektieren. Dabei geht es natürlich auch um aktuelle Fragen nach der Wirkung von Musik auf ihr Publikum und darum, wie man Emotionen und historisches Wissen miteinander verbindet. Sir Roger Norrington verwendet dafür gern das Bild der zwei Zirkuspferde: «Im Zirkus gibt es diese Akrobaten, die stehend auf zwei Pferden reiten. Sie machen einen Spagat zwischen dem weissen und dem schwarzen Pferd. Diese beiden Pferde kennen wir auch in der Musik. Das eine trägt den Namen ‹Fakten›. Es ist darauf ausgerichtet, die Regeln einzuhalten, bei Rot an einer Ampel stehen zu bleiben, nicht zu schnell und nicht zu langsam zu galoppieren. Das andere Pferd trägt den Namen ‹Emotion›, es will Grenzen brechen, ihm geht es darum, die Leute zu begeistern, es reitet am liebsten ohne Zügel. Die eigentliche Kunst besteht nun darin, dass wir als Musiker beide Pferde in Einklang bringen, denn nur so verhindern wir, hinzufallen. Mit anderen Worten: Eine gelungene Interpretation jongliert für mich immer zwischen Fakten und Emotionen.» ab

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