Der Akkordeonspieler Richard Galliano, die Mezzosopranistin Vesselina Kasarova und das Zürcher Kammerorchester überschreiten die Grenzen des Jahres, der Zeit, des Raumes und der Musik.
Jeder Jahreswechsel ist immer auch eine Grenzüberschreitung: Das Vergangene wird nochmals reflektiert, dann aber das Neue in Angriff genommen. Auch das Silvester- und Neujahrskonzert mit dem Zürcher Kammerorchester, dem Akkordeonspieler Richard Galliano und der Mezzosopranistin Vesselina Kasarova übersegelt dieses Jahr ganz unterschiedliche Grenzen: Meridiane der Welt von Südamerika bis Frankreich und weiter nach Italien. Von der grossen Oper bis zum argentinischen Tango und dem neapolitanischen Volkslied werden Musikstücke aus unterschiedlichen Genres am Silvester- und Neujahrskonzert zu einem stimmungsvollen Ganzen zusammengetragen.
«Die Musik und das Leben von Richard Galliano sind ein Sinnbild für Grenzüberschreitungen.»
Ein Sinnbild für Grenzüberschreitungen sind die Musik und das Leben von Richard Galliano. Schon als Junge war das Akkordeon sein ständiger Begleiter. Zunächst nahm sein Vater den Sohn in Le Cannet bei Cannes unter seine Fittiche. Mit 14 Jahren begann dann Richards Emanzipation: Systematisch hörte er sich Jazzplatten an und erweiterte seine Klangzone in Richtung USA, indem er die grossen Standards auf seinem Instrument nachspielte.
Mit 33 Jahren, Galliano war längst ein bekannter Virtuose, bekam er eine Einladung seines grossen Idols: Die südamerikanische Tangolegende Astor Piazzolla bat ihn, die erste Solostimme seines «Sommernachtstraums» zu übernehmen. Die beiden freundeten sich an, und der Altmeister riet Galliano, seinen amerikanischen Stil abzulegen und sich stattdessen auf die französische Schule zu konzentrieren, mit der er aufgewachsen war. «Schaffe einen ‹Musette Neuve›-Stil, wie ich den Tango Nuevo erfunden habe», soll Piazzolla dem jungen Kollegen geraten haben – und Galliano zögerte nicht. Heute sind seine Kompositionen wie «Tango Pour Claude», «Laurita» oder «Spleen» Klassiker im Akkordeon-Repertoire. Ausserdem ist Galliano ein begeisterter Interpret klassischer Komponisten wie Johann Sebastian Bach, Antonio Vivaldi, Maurice Ravel oder Erik Satie. Und natürlich ist er auch seinem grossen Mentor Astor Piazzolla und dessen Werk stets treu geblieben.
Galliano ist mit Instrumentalisten wie Jan Garbarek, Michel Petrucciani oder Chet Baker und mit grossen Stimmen wie Juliette Gréco oder Charles Aznavour aufgetreten. Bei den Zürcher Konzerten zum Jahreswechsel trifft er nun auf Vesselina Kasarova. Auch sie fand bereits als Kind in ihrer bulgarischen Heimat zur Musik: erster Klavierunterricht mit vier Jahren, mit 19 Jahren, kurz bevor sie ihren Klavierabschluss machte, der erste Gesangsunterricht. Mit 24 Jahren fing sie am Zürcher Opernhaus an, zunächst mit kleineren Rollen, bis sie zum Weltstar wurde und sich in Zollikon niederliess. Vesselina Kasarova gehört wohl zu den grössten Publikumslieblingen des Zürcher Opernhauses. Nun singen, spielen und tanzen diese unterschiedlichen Musiker gemeinsam vom alten in das neue Jahr.
Ein Schwerpunkt des Abends sind die lebensfrohen, mit leidenschaftlicher Verve angefüllten Lieder Italiens. Die Rossini-Werke im Mittelteil des Programmes könnten als Vorlage zu dieser pulsierenden Musik
«Ein Schwerpunkt des Abends sind die lebensfrohen, mit leidenschaftlicher Verve angefüllten Lieder Italiens.»
verstanden werden, die von Komponisten wie Stefano Donaudy geprägt wurde. Donaudy hat jene Arien geschrieben, mit denen unter anderem Enrico Caruso oder Beniamino Gigli bekannt wurden, und ist in dieser Gala mit «O del mio amato ben» zu hören. Eng befreundet mit Enrico Caruso war auch Francesco Paolo Tosti, selbst ein begnadeter Sänger, der zum Urvater der neapolitanischen Volkslieder wurde. Als Erfinder von «O sole mio» gilt Eduardo Di Capua, von dem in den Galas zum Jahreswechsel der Klassiker «Vieni sul mar» zu hören sein wird.
Dass jede Grenze auch Grenzüberschreiter braucht, machen Biografien wie jene von Juan D’Arienzo deutlich. Er kam als Sohn italienischer Einwanderer in Buenos Aires zur Welt, war nach seinem Musikstudium zunächst als Geiger tätig und machte sich daran, den klassischen argentinischen Tango zu revolutionieren. Zusammen mit Richard Gallianos französischen Umdeutungen bildet dieser Tango in all seinen Spielarten einen weiteren Schwerpunkt der pulsierenden Konzertabende.
Ebenso früh wie bei Galliano begann die Leidenschaft Astor Piazzollas für den Tango (es erklingen insgesamt vier Werke von ihm). Als Kind bekam er ein Bandoneon von seinem Vater geschenkt. Auch Piazzolla wurde zu einem Grenzüberschreiter, als er zum Studium nach Paris, zu Nadia Boulanger, ging. Ebenso wie Piazzolla den jungen Richard Galliano später auf dessen eigene, französische Wurzeln zurückwarf, tat es Boulanger mit ihm: «Du Idiot!», soll sie ihrem Schüler entgegengerufen haben, der im Unterricht gern im klassischen Stil von Ravel und Strawinsky komponiert hatte, um Eindruck zu schinden, und nun zufällig einen Tango am Klavier spielte: «Merkst du nicht, dass dies der echte Piazzolla ist, und nicht der andere?»
Vielleicht ist genau das die Botschaft des Neujahrskonzert: Egal, welche Grenzen wir überschreiten, die Grenzen der Zeit, des Raumes oder der Musik – am Ende geht es zuweilen nur darum, bei sich selbst anzukommen. ab
Diese und weitere spannende Beiträge rund um unsere Konzerte (wie das Neujahrskonzert) lesen Sie auch im aktuellen OPUS.