Gemeinsam mit dem Vokalensemble SingerPur begibt sich Klarinettist David Orlowsky auf die Suche nach dem Propheten Jeremia und stellt ein Programm zwischen überirdischer Schönheit und tiefster Menschlichkeit vor.
David Orlowsky, gemeinsam mit SingerPur haben Sie sich Jeremia vorgenommen – was ist so besonders an dieser Figur?
Zunächst einmal, dass er in den monotheistischen Weltreligionen, im Christentum, im Judentum und im Islam, als wichtiger Prophet akzeptiert ist. Jeremia, der den Untergang Jerusalems vorhergesagt hat, ist bekannt durch seine Klagelieder. Unser Ausgangspunkt war, diese Gesänge in der Version des Komponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina in Szene zu setzen.
«Zu Zeiten Jeremias muss die Welt ebenso verrückt gewesen sein wie heute.»
Was gefällt Ihnen an Giovanni Pierluigi da Palestrina?
Was ich spannend finde, ist, dass er es geschafft hat, Musik zu komponieren, die eine Art Frieden ausstrahlt. Wenn man sich mit dem Leben Jeremias auseinandersetzt, mit dem Streit der Religionen, dem Kampf um Jerusalem, dann spürt man, dass die Zeit damals ebenso aufgeladen und verrückt gewesen sein muss wie heute. Und vielleicht ist es gerade jetzt auch sinnvoll, die Welt mit der Gelassenheit Palestrinas in Klängen zu ordnen.
Wie erlebten Sie die Zusammenarbeit mit SingerPur?
Wir haben uns wochenlang eingeschlossen und experimentiert. Das ist in der Welt der Klassik nicht mehr selbstverständlich. Ich wusste zunächst nur, dass ich etwas mit Jeremia und Palestrina machen wollte. Und dass es mir wichtig war, mit der Klarinette quasi als siebte Stimme neben den Sängern aufzutreten. Während der Arbeit mit SingerPur hat sich dann herausgestellt, dass unsere Programmideen am Ende mehr waren als die Summe unserer ursprünglichen Gedanken – es ist eine vollkommen neue Welt entstanden, die wir nun in einem 70-minütigen Programm vorstellen, das ein Art Trip sein kann, ein Rausch …
Auch deshalb, weil Palestrinas Musik so unglaublich harmonisch, fast engelsgleich ist?
Ja, er kümmert sich wenig um den doch oft eher brutalen Text, sondern schafft es, wie bereits erwähnt, Ruhe einkehren zu lassen. Eine Art geistliche Gelassenheit, die gerade in unserer Welt nur noch selten zu erleben ist. Seine Musik ist unfassbar schön, er legt die Dissonanzen auf die schwachen Schläge und arbeitet mit wunderbaren Symmetrien. Die einzelnen Lamenti sind im Original durch Gesänge über die Buchstaben des hebräischen Alphabets voneinander getrennt. Hier nehmen wir uns dann die Freiheit zur Improvisation und experimentieren mit dem Zusammenspiel der Stimmen und dem Instrument.
«Palestrinas Musik steht im Kontrast zu unserer schnellen und schrillen Zeit.»
Sie meinen, Palestrina ist es gelungen, in seiner Jeremia-Musik eine Philosophie unterzubringen?
Ich weiss nicht, ob man das Philosophie nennen kann. Sicher aber steht seine Musik im Kontrast zu seiner sowie unserer schnellen und schrillen Gegenwart: Palestrina schafft es, die Zeit aufzulösen und, auch wenn ich nicht im eigentlichen Sinne gläubig bin, erlebe ich in dieser Musik etwas, das grösser ist als wir selbst. Palestrinas Musik ist einfach berührend und weist auf einen grösseren Kosmos.
Gleichzeitig mischen Sie die Musik Palestrinas mit Werken von Carlo Gesualdo. Ein Komponist, der mit dramatischen Ausdrucksformen brilliert – der aber leider auch dafür bekannt ist, dass er in einem Eifersuchtsanfall seine eigene Frau ermordet hat …
Ja, dieses Verbrechen überschattet die Vita Gesualdos. Seine Musik aber beeindruckt mich sehr. Mit ihrer ungestümen Art ist sie der perfekte Gegenpol zur vergeistigten Schönheit von Palestrinas Werken. Man könnte auch sagen, dass Gesualdos Musik für das allzu Menschliche steht, für grosse Gefühle, die Ecken, die Kanten, das Ungeschliffene. Und dann haben wir auch noch Werke von Matan Porat im Programm – seine Musik ist so etwas wie die Vereinigung der beiden Welten. Sie weist zum einen in unsere Zeit, zum anderen vermittelt sie zwischen überirdischer Schönheit und menschlichem Ungestüm.
Sie haben bereits erwähnt, dass ein Projekt wie dieses eine intensive Auseinandersetzung voraussetzt. Können Sie nochmals näher darauf eingehen, was in der Zeit passiert ist, in der Sie gemeinsam mit SingerPur am Programm gearbeitet haben?
Man hatte eine Idee, die sich dann von alleine immer weiter entwickelte, bis sie irgendwann ausgereift erschien. Die Ausgangssituation hatte dabei oft nur noch wenig mit den Erkenntnissen zu tun, die am Ende des Prozesses standen. Das ist die Arbeit, die mich eigentlich begeistert: Zu spüren, dass durch die Musik etwas mit uns passiert, dass wir an Orte gelangen, die uns vorher unbekannt waren. Und ich hoffe, dass es dem Publikum ähnlich geht. Ein durchgehendes Programm, in dem nicht geklatscht wird, ist auf den ersten Blick vielleicht ungewohnt, aber ich bin sicher, dass es einen Sog entwickelt und dass wir schaffen, was Komponisten wie Palestrina vielleicht im Sinn gehabt haben: einen Kosmos zu kreieren, in dem man die Welt verlässt und sich allein im Raum der Musik bewegt. ab
Dieses Interview lesen Sie auch im aktuellen OPUS.