Jan Lisiecki wurde als Sohn zweier Polen in Kanada geboren – in Zürich beweist er die musikalische Selbstverständlichkeit seines Landsmanns Chopin.
Jan Lisiecki, Sie haben einmal gesagt, das Faszinierendste an der Musik sei die absolute Konzentration auf den Moment, auf das Hier und Jetzt. Ist dieser Moment nur am Konzertabend möglich?
Am Konzert findet diese Art der Magie auf jeden Fall am häufigsten statt. Man arbeitet Hunderte, ja Tausende von Stunden an einem Stück – und alles läuft dann auf diese Augenblicke des ganz Besonderen heraus, darauf, dass etwas Einmaliges passiert.
Wie genau würden Sie diesen Moment beschreiben? Erleben Sie ihn bewusst als Pianist, der in einem Konzertsaal sitzt, oder verabschieden Sie sich in diesem Augenblick von Raum und Zeit?
Vielleicht ist es von beidem etwas: Auf der einen Seite funktioniert alles nur, weil man als Künstler auf einem Podium sitzt und den gleichen Raum und Augenblick mit dem Publikum teilt. Auf der anderen Seite versucht man, eine ganz eigene Sphäre zu kreieren, in die man das Publikum einlädt. Natürlich wird an einem Abend nicht jeder im Saal in der gleichen Sphäre sein, letzten Endes nimmt jeder das Konzert auf eine eigene Art wahr. Aber es gibt dieses Bewusstsein, dass wir alle den gleichen Moment mit derselben Musik teilen – und dadurch entsteht eine Verbindung. Es ist schwer, dieses Phänomen in Worte zu fassen. Man spürt einfach, wenn es zu fliessen beginnt, wenn der Solist ebenso wie ein Grossteil des Publikums im gleichen Kosmos sind.
«Wir teilen alle den gleichen Moment mit derselben Musik – dadurch entsteht eine Verbindung.»
Wie wichtig ist der Konzertsaal für diesen Zustand?
Wir leben in einer Zeit, in der alles ständig digital verfügbar ist. Was aber wirklich zählt, ist das Live-Erlebnis im Konzertsaal. Der Moment, von dem wir eben gesprochen haben, entsteht nur im direkten Kontakt von Künstler und Publikum. Ich versuche, an Konzerttagen auf Handy und Internet zu verzichten, um mich darauf zu konzentrieren, am Abend eine besondere Stimmung herzustellen.
Sie haben vorhin gesagt, dass es Hunderte von Stunden des konzentrierten Übens braucht, um diesen Moment herzustellen. Gleichzeitig ist er vorbei, sobald der letzte Ton verklungen ist.
Das ist ja das Besondere an der Musik: Anders als ein Bild oder ein Buch ist sie vergänglich. Ein Bild können wir immer wieder anschauen. Die Töne, die gespielt werden, verklingen und müssen bei jedem Konzert wieder neu hergestellt werden – dabei werden sie nie wieder so klingen wie am Abend zuvor. Doch trotz dieser Vergänglichkeit schafft es die Musik, bleibende Momente zu erzeugen. Wie viele Menschen gehen mit der Erinnerung an ein, zwei oder drei ganz besondere Konzerte durchs Leben? Dies zeigt, dass auch Töne für die Ewigkeit bestehen und Menschen tatsächlich langfristig prägen können.
«Ich möchte mich innerhalb der vorgegebenen Form möglichst natürlich bewegen.»
Jan Lisiecki, Ihr Klavierspiel ist auch deshalb besonders, weil Sie nicht auf Effekte setzen, nicht überbordend ausschmücken, sondern sich ganz nahe an der Musik bewegen.
Derartige Einschätzungen machen mich sehr glücklich. Danke. Ich glaube, man sollte sich tatsächlich möglichst auf die Musik einlassen, die man vorfindet. Natürlich kann man das auch anders halten: Man kann seine eigene Sichtweise, sein eigenes Ego nutzen, um die Musik für sich zu erobern. Auch das ist legitim. Ich persönlich aber finde es wesentlich spannender, mich auf das Genie einzulassen, das ich bei Mozart, Beethoven oder Chopin finde. Mir geht es um eine Art Respekt gegenüber der Musik und gegenüber dem grossen Privileg, das wir als Künstler haben, diese Musik jeden Abend zum Leben zu erwecken.
Das bedeutet, statt Ihr Ich durchzusetzen, schauen Sie in der Musik, welche Facetten Ihres Daseins sie abbildet?
So würde ich das auch nicht beschreiben. Es geht weniger darum, in der Musik etwas von mir zu finden oder mich selber neu zu entdecken als vielmehr darum, wie ich auf ein Musikstück schaue, wie ich es aus den Noten heraus verstehe. Das Grossartige ist ja, dass sehr viele Komponenten einer Komposition konkret definiert sind, dass auf der anderen Seite aber so unendlich viel Spielraum bleibt, um sich innerhalb der Musik zu bewegen. Und darum geht es mir: mich innerhalb der vorgegebenen Form möglichst natürlich zu bewegen.
In Zürich spielen Sie zunächst das «Andante spianato und Grande Polonaise brillante». Hier geht es schon auch darum zu zeigen, was der Pianist kann, oder?
Sagen wir es so: Es ist technisch durchaus anspruchsvoll, aber das ist bei Chopin nie Selbstzweck. Vielmehr geht es darum, das Innenleben der Musik aufzuspüren, die manchem vielleicht sehr äusserlich vorkommen mag.
Wild und hautnah
Die Bilder des Fotografen David Yarrow bestechen durch ihre Nähe: Nicht nur ist bei den Tigern und Zebras jedes einzelne Schnurrhaar, bei den Elefanten jede einzelne Hautfalte zu sehen – es ist auch fast so, als würde man der Seele dieser Lebewesen begegnen. Bilder, für die der Schotte auf unmittelbare Tuchfühlung mit der Wildnis geht – oft in äusserst riskanten Situationen. Das Zürcher Kammerorchester und Jan Lisiecki fügen Yarrows Bildern nun eine neue Dimension hinzu, eine musikalische Perspektive. Das Orchester untermalt die laufende Zebra-Herde in der Steppe, den brüllenden Bären und den lauernden Tiger und haucht den Bildern so eindrücklich Leben ein, dass man die Wildnis nicht nur sehen, sondern auch hören, fühlen und sich darin wiederfinden kann. «Ich liebe die Fotografien von David Yarrow», sagt der Pianist Jan Lisiecki, «und bin gespannt, wie sie sich mit der Musik von Chopin verbinden. Ich hoffe, dass sie der Musik eine andere Perspektive geben, und dass die Musik wiederum den Bildern eine andere Dimension verleiht.» (Texte: Axel Brüggemann)
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