Der Star-Blockflötist Maurice Steger feiert Silvester und Neujahr mit der Sopranistin Rachel Harnisch und dem ZKO. Das Programm, das er sich für die beiden festlichen Konzerte ausgedacht hat, könnte aktueller kaum sein.
TEXT LION GALLUSSER

Zu Beginn des Jahres 2020 konnte wohl kaum jemand absehen, was alles auf uns zukommen würde. Der so plötzlich gekommene Lockdown stellte unsere Gewohnheiten und den geregelten Alltag von einem Tag auf den anderen auf den Kopf. Musikerinnen und Musiker spürten dies besonders stark. Sie konnten doch plötzlich nicht mehr auftreten – und mussten gegen das aufgetretene Chaos ankämpfen.

Diese turbulenten Begebenheiten mit all den durchlebten Gefühlen bilden nun auch das gedankliche Pendant für die beiden Konzerte zum Jahreswechsel. ≪Für einmal hatte ich – bereits vor Corona – ein Programm konzipiert, bei dem ich ganz bewusst auf Einheitlichkeit verzichtet habe≫, erklärt Steger, der dem ZKO schon seit rund 25 Jahren eng verbunden ist. ≪Durch die Umstände des Jahres 2020 wurde diese Konzeption brandaktuell: Die unterschiedliche Musik widerspiegelt unsere verschiedenen Emotionen; vor allem aber weiss man erst mit der Zeit, wie das Programm funktioniert.≫ Damit spielt Steger darauf an, dass das Publikum zunächst in das Chaos gestürzt wird, ehe die Ordnung – wie auch in unserem Alltag – durch das ≪Abtasten≫ in verschiedene Richtungen neu entsteht.

Tatsächlich wird sich das Konzertpublikum wohl ≪wie im falschen Film≫, so Steger, vorkommen, wenn es die unerhört dissonanten ersten Tone des Programms hört. Sie stammen vom französischen Barock-Komponisten Jean-Fery Rebel (1666–1747), der damit, wie er selbst schrieb, versuchte, das ≪Chaos≫ darzustellen, also jene ≪Unordnung≫, in der sich die Elemente ursprünglich befanden. Dieses erhält allmählich eine Struktur, indem sich die Elemente voneinander abzuheben beginnen. Rebel setzte dies mit geradezu avantgardistisch wirkenden und ungeordneten Klangflachen um – im 20. Jahrhundert sollte man von ≪Clustern≫ sprechen –, aus denen sich die Erde, das Wasser, die Luft und das Feuer mit eigenen musikalischen Motiven und Instrumenten herausschälen. Die hergestellte Harmonie wird bei Rebel mit verschiedenen anschliessenden Tanzsätzen zelebriert. Im Konzertprogramm zum Jahreswechsel werden sie zu ordnenden Stützen, zwischen denen sich weitere Perlen der Barockmusik, nun italienischer Prägung, ansiedeln; so auch die äusserst sinnliche Arie ≪Lascia la spina, cogli la rosa≫, mit welcher der anfangs seiner 20er stehende Georg Friedrich Handel auf seiner Italienreise die römische Noblesse um Kardinal und Mäzen Benedetto Pamphilj (1653–1730) verzauberte.

«Ein buntes Bouquet menschlicher Emotionen, in dem auch wilde Blumen herausragen.»

«Die im Vergleich zu den schliesslich gebändigten Klängen Rebels so andersartige, quirlige italienische Musik lenkt», so
Steger, «die etablierte Ordnung nun in eine andere Richtung». Ja, dieser Kontrapunkt verstärkt sich und führt von den tiefsten
menschlichen Leidenschaften in der Mozart-Konzertarie «Ah, lo previdi» über die lebhafte «Italianità» in einem Blockflötenkonzert
des Barockkomponisten Domenico Sarro und genusshafte und bisweilen erotisch angehauchte Stücke (Franz
Léhars «Meine Lippen, sie küssen so heiss») bis hin zum neapolitanischen Volkslied – unterschiedliche Kompositionen,
die schliesslich «ein buntes Bouquet menschlicher Emotionen ergeben, in dem auch wilde Blumen herausragen».

Im Gespräch mit Steger merkt man, dass das Silvester- und das Neujahrskonzert nicht einfach zwei festliche Galas sind. Sie sind
gleichzeitig auch Entdeckungsreisen in verschiedenste «neue» und «neue alte» Werke, die man sonst nicht
höre. Das wichtigste Kriterium: gute Musik. «Das bunt gemischte Programm ermöglicht es auch der Solistin, sowohl
das Beste ihres Repertoires als auch ihr Können in der Alten Musik zu zeigen.» Steger meint damit die Vielfalt der international
gefragten, aus dem Wallis stammenden Sopranistin Rachel Harnisch. Mit «Ah, lo previdi» kann sie just in der
Mitte des Programms mit einer Konzertarie des von ihr hoch geschätzten Mozart glänzen.

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