Christian Zacharias ist einer der klügsten Pianisten unserer Zeit. Lange hat er Bach gemieden – nun stellt er ihn gemeinsam mit Haydn aufs Programm. Ein Gespräch über Bachs musikalische Formen, die Irritation des Publikums und die Angst des Pianisten vor Haydn.
Christian Zacharias, in Zürich spielen Sie Bach und Haydn – quasi den Vollender des Barocks und den Initiator der Wiener Klassik …
Ja, das sind sehr spannende und musikhistorisch prägende Komponisten. Ich habe mich lange vor Bach gedrückt, weil ich viele seiner Werke doch eher mittelmässig finde.
Das klingt ja fast nach Blasphemie!
Es ist doch normal, dass ein Komponist nicht in jedem seiner Werke auf der genialen Höhe seines Schaffens steht. Das gilt übrigens auch für Mozart, bei dem ebenfalls die Hälfte seiner Stücke eher durchschnittlich ist. Mit seinem Frühwerk, den ersten Sinfonien, können Sie mich persönlich auf jeden Fall jagen. Wenn Sie sagen, dass Bach so etwas wie ein Vollender war, würde ich zustimmen: Er hat die Mittel seiner Zeit in eine vollendete Form gebracht. Diese Form war allerdings so perfekt, dass er sie immer und immer wieder genutzt und zuweilen überschwemmt hat. Natürlich gibt es die ganz grossen Stücke wie die Goldberg-Variationen, die tief berühren. Auch die Suite und die Partita, die ich spiele, sind Werke, in denen Form und tief empfundene Menschlichkeit eine Symbiose eingehen. Bei anderen Werken habe ich hingegen zuweilen den Eindruck, dass das musikalische System droht, die Komposition zu übernehmen.
Sie meinen, es handelt sich oft auch um «Fliessbandkompositionen».
Anders wäre es gar nicht möglich gewesen, dass Bach jeden Sonntag neue Kantaten vorgestellt hat. Natürlich hat er viele seiner eigenen Ideen immer wieder recycelt. Das ist kein Vorwurf. Aber ein Blick in die Musikgeschichte zeigt auch, dass spätere Komponisten immer weniger komponiert haben – am Ende waren neun Sinfonien schon viel. Was ich sagen will: Wenn es darum geht, eine bestehende Form immer wieder neu zu füllen, kann man sehr produktiv sein. Wenn es aber darum geht, einen Schritt weiter zu gehen, dann wird auch der Kompositionsprozess langwieriger. Und damit wären wir bei Haydn. Ich dirigiere inzwischen auch sehr viel. Und für mich hat kaum eine seiner Sinfonien eine Schwäche. Haydn hat immer versucht, weiter und weiter und weiter zu gehen.
«Haydn hat immer versucht, weiter und weiter und weiter zu gehen.»
Auch, weil er ein anderes Verhältnis zu seinem Publikum hatte? Bachs Kompositionen waren oft hermetisch, Haydn dagegen spielt und flirtet mit seinen Zuhörern und öffnet die Musik.
Ich glaube, da ist viel Wahres dran. Bach hat wohl tatsächlich zum Lob Gottes komponiert. Haydn hatte sowohl am Hofe der Esterházys als auch später in London das beste Publikum Europas. Seine Zuhörer haben das Augenzwinkern, den musikalischen Humor, das Risiko, die Innovationen verstanden. Sie haben mit seiner Musik gelacht und gelebt. In diesem Sinne war Haydn in einer sehr privilegierten Situation.
Umso erstaunlicher ist, dass seine Werke heute keine wirklich grosse Rolle auf den Konzertpodien spielen.
Ich frage mich auch, warum das so ist. Und ich habe mir vorgenommen, ihn durch meine Arbeit ein wenig zu rehabilitieren. Tatsächlich glaube ich, hat es mit zwei Umständen zu tun. Wenn Sie eine Haydn-Sonate spielen, dann brauchen Sie zunächst einmal viel Mut. Ein Beethoven kann auch bei einer mittelmässigen Interpretation für ein Aufhorchen sorgen. Bei Haydn müssen Sie dagegen sehr genau arbeiten. Fehler oder Schlampigkeiten verzeiht diese Musik nicht. Haydn ist einfach sauschwer zu spielen. Auf der anderen Seite haben wir im Publikum vielleicht ein bisschen von seiner musikalischen Sprache verloren. Es kommt in der Klassik heute ja sehr stark auf das Visuelle an. Eine CD verkaufen Sie mit einem grossartigen Foto. Aber gerade Komponisten wie Haydn erwarten von uns, die Musik als natürliche Sprache zu verstehen: seinen feinen Humor und sein Spiel mit unseren Erwartungen. Wer Musik allein mit dem Auge hören will, der wird bei Haydn nicht fündig – seine Werke sind noch wahrhaftige Musik für die Ohren, mit denen er dauernd spielt.
Dabei passt seine Musik doch perfekt in unsere Zeit, in der es kein einheitliches Weltbild mehr gibt. Auch Haydn spielt mit dem Sein und dem Schein und nutzt den Eklektizismus.
Das ist ein spannender Gedanke. Ich glaube auch, dass Haydn viel über unsere Welt zu sagen hat. Besonders die historisch informierten Ensembles oder die Barock-Experten beweisen immer wieder, wie aktuell diese Musik ist.
In dieser Ausgabe des Opus sagt Isabelle Faust, dass alles Üben nur den Grund habe, das Instrument zu überwinden. Stimmen Sie ihr zu?
Absolut. Ich bewundere Isabelle Faust, ihre Musikalität und ihre Klugheit. Die Technik ist tatsächlich ein Mittel, um das Instrument in der Musik verschwinden zu lassen. Auch als Pianist gibt es immer wieder Werke, in denen das Klavier beginnt, ein Eigenleben zu führen und sich in den Mittelpunkt stellt. Da gilt es aufzupassen! Überhaupt glaube ich, dass die Zeit gekommen ist, in der die Eitelkeiten von Künstlern oder Instrumenten überwunden werden müssen. Öffnen wir einfach wieder unsere Ohren und staunen, was es alles zu entdecken gibt. (Interview: Axel Brüggemann)
Das Interview lesen Sie auch im aktuellen OPUS.