Interview mit Lars Vogt
Lars Vogt, Sie treten in Zürich sowohl als Pianist als auch als Dirigent auf. Das Dirigieren ist bei Ihnen irgendwann dazugekommen – wie kam das?
Mich hat schon immer fasziniert, dass ein Orchester komplett anders klingt, abhängig davon, wer es leitet: die gleichen Noten, die gleichen Musiker – und dennoch vollkommen andere Klänge! Ich erinnere mich, als ich 1991 gemeinsam mit Simon Rattle in den USA bei der Hollywood Bowl aufgetreten bin und er hinter der Bühne zu mir sagte: «Lars, irgendwann wirst du meinen Job machen.» Erst neulich habe ich ihn gefragt, wie er auf die Idee gekommen sei, und er meinte: «Das war ein Bauchgefühl, irgendwie habe ich es gespürt.» Und: Er hatte Recht! Das Dirigieren hat mich immer mehr angezogen und ich habe begonnen, mich mit unterschiedlichen Menschen darüber zu unterhalten: mit Christian Thielemann, Daniel Harding oder Robin Ticciati. Das waren sehr beflügelnde Gespräche.
Gab es einen Moment, an dem Sie sich wirklich sicher waren, dass Sie selbst ebenfalls dirigieren wollen?
Ja, als ich mit der Camerata Salzburg das dritte Klavierkonzert von Beethoven aufführte, dirigierte ich vom Klavier aus. Dabei hat sich plötzlich eine Art Rausch eingestellt, ein Dialog der Leidenschaft zwischen mir und den Musikern. Da war plötzlich eine unglaubliche Kraft, die freigesetzt wurde, ein totales High – und in diesem Moment wusste ich: Ich will das Ziel, selbst zu dirigieren, ernsthaft verfolgen. Ich habe Dirigierstunden genommen und zunächst Amateurorchester geleitet, um zu sehen, ob diese Arbeit etwas für mich ist.
Hat man, wenn man selbst Solist ist, als Dirigent automatisch eine andere Autorität?
Ich glaube, dass Autorität im Sinne von autoritärem Handeln in der Musik nichts zu suchen hat. Aber es stimmt schon, dass irgendjemand bestimmen muss, wohin die Reise geht – trotz und gerade auch wegen aller Diskussionen, die ich für sehr wichtig halte. Wenn man als Solomusiker vor ein Orchester tritt, hat man vielleicht einen kleinen Bonus. Aber natürlich stehe ich auch Musikern gegenüber, deren Instrumente ich nicht beherrsche. Ich schlage auch den Geigen einen Strich vor, und dann probieren wir es aus – aber all das geschieht gemeinsam in einem Prozess, in dem wir alle um die beste Interpretation ringen. Mit der Royal Northern Sinfonia habe ich ein wunderbares Ensemble, mit dem ich viel ausprobieren kann. Aber auch heute noch gibt es einige Stücke, die bei mir erst einmal nicht fliegen wollen …
«Ich bin mir nicht zu schade, Rat einzuholen.»
Was machen Sie dann?
Dann bin ich mir nicht zu schade, Rat einzuholen. Es kommt schon mal vor, dass ich einem Dirigenten- Freund wie Robin Ticciati eine SMS schreibe und ihn frage: «Sag mal, wie bekomme ich denn den letzten Satz von Mozarts Jupiter-Sinfonie am besten hin?» Die Antworten sind dann oft ganz einfach. In diesem Fall riet er mir, mit kleinen Gesten zu dirigieren, denn die sorgen im Vergleich zu grossen Bewegungen für mehr Klarheit. Es ist dieses Handwerkszeug, das man sich im Lauf der Jahre aneignet.
Unterscheidet sich der Zugang zu einem Werk, wenn Sie als Pianist oder als Dirigent auftreten? Oder gelingt es Ihnen in beiden Fällen, Ihre Vorstellung durchzusetzen?
Es geht in der Regel nicht darum, mich selbst zu verwirklichen. Ich verstehe das Musizieren eher als Akt einer detektivischen Suche danach, wie die Interpretation eines Werks dem Komponisten gerecht wird. Natürlich braucht jeder Musiker eine Persönlichkeit, die sich in seine Interpretation einschreibt – aber man sollte diese nicht mit dem Ego verwechseln. Während die Persönlichkeit beim Musizieren hilft, steht das eigene Ego einer wahrhaftigen Interpretation meist im Weg. Für mich wird das Musikmachen dann spannend, wenn ein Austausch stattfindet: Natürlich erkläre ich dem Orchester meine Philosophie und meinen Blick auf ein Stück, aber ich bin auch neugierig auf seine Sichtweise.
Beim Klavierspielen haben Sie mit dem physischen Widerstand der Tasten zu tun. Als Dirigent fällt dieser weg – ist das ein seltsames Gefühl?
Tatsächlich ist das der vielleicht grösste Gegensatz der beiden Disziplinen. Während ich beim Klavierspiel den Klang durch die Tasten spüre, schlage ich als Dirigent nur in die Luft. Doch diese Luft verändert sich für mich als Dirigenten, es wird eine andere Luft, eine Luft, die Widerstand ausübt, mal weniger, wie bei Mozart und dessen homogener Musik, mal mehr, wie bei Beethoven, der den Widerstand quasi beschwört. Im Ernst: Mir kommt es beim Dirigieren oft so vor, als ob meine Hände durch eine Flüssigkeit fahren würden, sodass ich beginne, den Klang, den das Orchester anbietet, auch physisch zu spüren. Das ist eine unglaublich grossartige Erfahrung.
«Wenn ich dirigiere, beginne ich den Klang, den das Orchester anbietet, physisch zu spüren.»
Sie sind ein gefeierter Kammermusiker, haben sogar ein eigenes Kammermusikfestival. Es heisst oft, dass grossen Orchestern das kammermusikalische Denken abgeht …
Damit ist wohl gemeint, dass die Grundtugend des Zuhörens manchmal fehlt oder zu wenig ausgeprägt ist. In der Kammermusik ist es eine Notwendigkeit, auf die Nebenstimmen zu hören, den gemeinsamen Rhythmus zu erspüren und zu atmen. Jeder einzelne Musiker weiss, dass es auf ihn ankommt, dass er gehört wird, und vielleicht ist das besonders motivierend. Es kann tatsächlich vorkommen, dass nur zwei Pulte mehr in den Geigen dafür sorgen, dass sich der einzelne Musiker plötzlich etwas zurückzieht und alles nicht mehr so flexibel und wach wirkt. Aber letztlich sollte auch in einem Sinfonieorchester das gemeinsame Zuhören die Grundlage bilden. Dem Dirigenten Carlos Kleiber wird der Ausspruch zugeschrieben: «Ich habe zwar nicht viele Fähigkeiten, aber eine davon ist, dass ich sehr wohl merke, ob die Begleitung auf die Hauptstimme hört.» Damit ist eigentlich alles gesagt. Beim Klavierspiel ist das übrigens nicht anders: Die linke Hand muss immer auf die rechte hören und die rechte auf die linke – nur so entsteht am Ende Musik.
Sie sind inzwischen schon öfter mit dem Zürcher Kammerorchester aufgetreten, sowohl als Pianist als auch als Dirigent. Wie würden Sie dieses Orchester einschätzen?
Wenn ich nur ein Wort zur Beschreibung dieses Orchesters hätte, würde ich mich für «Flexibilität» entscheiden. Man hört beim ZKO die wunderbare Tradition eines Sir Roger Norrington, gleichzeitig wirken die Musiker aber nie dogmatisch. Alles scheint in diesem Orchester Neugier zu sein, der Spass daran, sich in freien Formen zu bewegen und flexibel auf die Künstler einzustellen, mit denen man musiziert. Das ist eine wunderbare Eigenschaft, die ich sehr bewundere. ab
Dieses Interview lesen Sie auch im aktuellen OPUS.