Wenn in den kommenden Wochen so grossartige Künstler wie die Geigerin Isabelle Faust, die Pianisten Christian Zacharias und Kristian Bezuidenhout, der Flötist Maurice Steger oder die Sängerin Delphine Galou zu uns kommen, sprechen viele von musikalischen Virtuosen. Virtuosen, das klingt nach Könnern, nach Meistern, nach Menschen, die technisch in der Lage sind, viele komplizierte Noten in schneller Folge hintereinander zu spielen.

«Die Technik ist lediglich die Grundlage unserer Kunst.»

Das Wort Virtuose hat sich eingebürgert, um Superlative in der Musik zu beschreiben. Am Anfang aber stand das lateinische «virtus», was so viel heisst wie «tüchtig», «mutig» oder «tugendhaft». Diese ursprüngliche Bedeutung ist für mich entscheidend, wenn wir über Virtuosen sprechen. Was zeichnet grosse Musiker aus? Ihre technische Fähigkeit? Der Grad, zu dem sie ihr Instrument beherrschen? Das sind wichtige Kriterien, aber für die Musik bedeuten sie am Ende: nichts. Die Technik ist lediglich die Grundlage unserer Kunst.

Echte Virtuosen zeichnen sich durch etwas anderes aus: durch die Tugend, der Musik gerecht zu werden, ihrer Wildheit, ihrer Schönheit, ihrem Abenteuer – und vor allen Dingen: ihrer Fähigkeit, zu den Menschen zu sprechen, nicht gekünstelt, nicht virtuos im Sinne einer technischen Superlativ-Veranstaltung, sondern als Ausdrucksform, die etwas mit uns allen zu tun hat, die uns verändert, erstaunt, begeistert, die uns berührt. Wenn Isabelle Faust Schumann spielt, geht es ihr sicher mehr um die Darstellung menschlicher Zerrissenheit als um den technischen Anspruch der Musik. Ebenso werden es Christian Zacharias und Maurice Steger mit den Werken Bachs und Haydns halten. Kristian Bezuidenhout ringt um das archaisch Menschliche bei Mozart, Delphine Galou um das emotional Packende bei Monteverdi. Für mich sind sie alle Virtuosen, viel mehr aber sind sie musizierende Menschen. Vielleicht verhält es sich mit der Musik wie mit einem Kuss: Technisch virtuos geküsst zu werden, mag einmal aufregend sein – wirklich befriedigend macht ihn nur das Gefühl.

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