Der Countertenor Andreas Scholl und das ZKO präsentieren Werke von Johann Sebastian Bach und Arvo Pärt.
Die Werke von Johann Sebastian Bach begleiten den Countertenor Andreas Scholl ein Leben lang. Er hat die «Johannespassion», die «h-Moll-Messe» oder die «Matthäuspassion» fast überall auf der Welt gesungen, stets an der Seite grosser Dirigenten wie Philippe Herreweghe oder René Jacobs. Gleichzeitig liegt dem Countertenor aus Eltville am Rhein ein Komponist unserer Gegenwart am Herzen: das Vokalwerk des estnischen Tonsetzers Arvo Pärt.
Johann Sebastian Bach und Arvo Pärt trennen fast 300 Jahre, dennoch scheinen die beiden Brüder im Geiste zu sein – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Das Geistliche, das Göttliche und die Verbindung von Himmel und Erde stehen bei beiden im Zentrum des Schaffens. Ein Paradebeispiel dafür ist Bachs Kantate «Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust», die er 1726 komponierte, und die eine Art Loblied auf den «wahren Seelenfrieden» und auf die «Stille und Ruhe des Herzens» darstellt. Ein Stück, in dem die Zeit still zu stehen scheint, in dem Himmel und Erde miteinander verschmelzen. Ruhe kehrt ein, Besinnung auf das Innere. Genau dieses Ziel verfolgt auch Arvo Pärt in zahlreichen seiner Kompositionen.
Dabei stellte sich seine intensive Auseinandersetzung mit Bach zunächst als Sackgasse heraus. Nachdem Pärt mit 12-Ton-Kompositionen den Unmut der sowjetischen Regierung auf sich gezogen und sich der Kirche zugewandt hatte, beschäftigte er sich mit Bachs Werk und verwendete Teile aus dessen Musik in seiner Collage-Technik. Ein Weg, der allerdings schnell erschöpft war. Irgendwann notierte Pärt: «Es ergibt keinen Sinn mehr, Musik zu schreiben, wenn man fast nur mehr zitiert.» Er legte eine Schaffenspause ein.
Später meldete er sich mit Minimalkompositionen zurück, in deren Zentrum die Kontemplation, die Suche nach dem Geist, nach dem Überweltlichen stand. Eine Suche, der die strenge, kleine Form zu Grunde liegt, eine vollkommen neue Ordnung der Töne. Und auch bei Bach spielte die Form stets eine wesentliche Rolle: Seine Werke sind formvollendete Stücke, die den Kosmos der Welt spiegeln und sich dennoch immer die Freiheit für irdische Freuden, irdisches Leid und weltlichen Jubel nehmen.
Pärt arbeitete akribisch an seinem neuen Kompositionsstil. «Ich habe das Bedürfnis, mich zu rückzuziehen und etwas Objektives darzustellen», sagte er einmal. «Je mehr wir ins Chaos geworfen werden, desto mehr müssen wir an der Ordnung festhalten. Das ist das Einzige, das uns ein wenig Gleichgewicht bringt und Überblick, Distanz und ein Bewusstsein vom Wert der Dinge verschafft.» Die Welt in Musik zu ordnen, ähnlich wie bei Bach, stellte für Pärt auch eine Möglichkeit dar, sich mit den eigenen persönlichen Schicksalsschlägen in einer turbulenten Welt auseinanderzusetzen – besonders mit der Kritik des Sowjetsystems an seinen Kompositionen. 1980 emigrierte Pärt mit seiner Familie nach Wien.
Für den Komponisten ist klar: Je grösser das Chaos der Welt, umso wichtiger ist die Ordnung innerhalb der Musik. Er formuliert es so: «Je grösser dieser Teil von Ordnung und je weiter dieser Flügelschlag, desto mächtiger ist auch die Wirkung eines Kunstwerks. Aber dieser Flügelschlag reicht nach beiden Seiten: auf der einen Seite Ungewissheit, unendliche Kompliziertheit und Chaos, auf der anderen Seite Ordnung. Das ist die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod.»
Auch diese Gleichzeitigkeit bestimmt das Programm, das Andreas Scholl und das Zürcher Kammerorchester unter Willi Zimmermann vorstellen werden. Sie werden unter anderem Pärts Vertonung des «Vater unser» interpretieren, das 2005 für Knabenstimme und Klavier erschien. Auf Anregung von Scholl hat der Komponist das Lied für Streicher umgearbeitet. Pärts «Vater unser» wirkt wie aus einem Guss, es entstand 2011 im Rahmen der Feiern zum 60. Jubiläum der Priesterweihe von Papst Benedikt XVI.
Mit dem Spagat zwischen Leben und Tod setzt sich ebenfalls Pärts Vertonung von Clemens Maria Brentanos Gedicht «Es sang vor langen Jahren» auseinander. Gedanken über ein Leben ohne die verstorbene Geliebte werden hier in Töne gesetzt, musikalische Einkehr und Melancholie und Worte der Sehnsucht: «Gott wolle uns vereinen, hier spinn ich so allein; der Mond scheint klar und rein, ich sing und möchte weinen!»
Tod und Trauer haben Arvo Pärt auch für sein «Wallfahrtslied» inspiriert. Anlass war der plötzliche Tod seines Freundes, des estnischen Film- und Theaterregisseurs Grigori Kromanov. «Plötzlich hatte sich ein unsichtbarer Graben zwischen uns aufgetan», notierte Pärt, «auf meiner Seite existierte die Zeit noch, er aber befand sich bereits in einer Sphäre der Zeitlosigkeit.» Es ging Pärt in seiner Musik darum, beide Welten miteinander zu verbinden, um seinem Freund einen «Gruss» zu senden und ihm eine «zarte Berührung» zukommen zu lassen. «Die eine Seite wird durch die Dynamik und die Mobilität des Orchesters ausgedrückt», erklärt Pärt sein Werk, «die andere durch ruhend wirkende Männerstimmen, die auf eine einzige Tonlage reduziert sind und an die Erhabenheit der Berge erinnern. Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen …»
Andreas Scholl und das Zürcher Kammerorchester werden den Liedern Pärts die «Chaconne» aus der Partita Nr. 2 in d-Moll von Bach und dessen Kantate «Widerstehe doch der Sünde» gegenüberstellen. Ein Programm, das ebenfalls einen Graben überwindet, der allein in der Musik zu überbrücken ist: den Graben der Zeit. ab
Diesen Bericht lesen Sie auch im aktuellen OPUS.