Lise de la Salle, Daniel Hope und das ZKO erwecken das europäische «Fin de Siècle» zum Leben.

Eine neue Welt verlangt nach neuer Musik. 1871 waren der Deutsch-Französische Krieg und seine Folgen der Grundstein für die Geburt einer solchen neuen Welt. Europa musste sich neu ordnen, Sicherheit gab es dennoch nicht. Das Aufkeimen der Nationalismen stand auf der politischen Agenda, und gleichzeitig die Sehnsucht der Menschen nach dem Alten – besonders nach dem Barock.

«Komponisten aller Nationen wollten mit ihren Tönen den Soundtrack für ein neues Europa komponieren.»

Das «Fin de Siècle» ist von Unsicherheit geprägt, und die schlägt sich auch in seiner Musik nieder. Die Suche nach nationalen Klängen in allen europäischen Ländern auf der einen Seite, der gemeinsame Rekurs auf die alte Musik europäischer Höfe auf der anderen. Harmonische Regeln wurden über Bord geworfen, neue Ausdrucksformen gesucht. Das neue Zeitalter forderte expressivere Klänge. Diese Ideen vereinten Komponisten aller Nationen – sie wollten mit ihren Tönen den Soundtrack für ein neues Europa komponieren, das Europa vor den beiden Weltkriegen. Gemeinsam mit der französischen Pianistin Lise de la Salle werden Daniel Hope und das Zürcher Kammerorchester in ihrem Programm nun dieser Zeit neues Leben einhauchen.

Zunächst richten sie ihren Blick nach Norwegen, wo Edvard Grieg den 200. Geburtstag des Dichters Ludvig Holberg zum Anlass nahm, um in seiner Musik zurück in das 18. Jahrhundert zu reisen. Bereits der Titel «Aus Holbergs Zeit» deutet an, dass Grieg die Geister der Gegenwart mit dem alten Stil beschwören wollte. Herausgekommen ist ein neoklassizistisches Meisterwerk, das den Vergleich mit Griegs «Peer Gynt Suite» nicht scheuen muss.

Auch Maurice Ravel suchte bereits als Student am Pariser Konservatorium nach neuen Klangformen, besonders inspiriert durch seinen Lehrer Gabriel Fauré. Mit seinem Stück «Pavane pour une infante défunte», zu deutsch Pavane für eine tote Prinzessin, fordert er eine kindliche Prinzessin zum historisch-spanischen Hoftanz auf. Auch wenn Ravel später erklärte, dass der Titel nur wenig mit seiner Musik zu tun habe, so ist der Rekurs auf das spanische Barock, die Anlehnung an alte, spanische Tänze offensichtlich – es lässt sich sogar bereits der Geist einer weiteren spanischen Tanzform, des «Bolero», heraushören. In einem anderen Brief verweist Ravel eindeutiger auf die spanischen Wurzeln seines Werks, wenn er sich mit dem bekannten Bild der spanischen Infantin von Diego Velázquez auseinandersetzt.

«Das neue Zeitalter forderte expressivere Klänge.»

Auch in England wurde in der Jahrtausendwende nach neuen Klängen gesucht. Edward Elgar begann als Neudenker, wurde aber durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dessen Folgen desillusioniert. Später wurde er von der nächsten Komponisten-Generation überholt. Elgar, der Erfinder von «Pomp and Circumstance», liebte seine englische Heimat, besonders die Wälder und Hügel in Worcester. Aber er wusste auch, dass in London neue Töne angeschlagen wurden. Sein «Introduction and Allegro» ist ein zeitloses Meisterwerk. Er komponierte es 1905 für das neu gegründete London Symphony Orchestra. Auch Elgar nimmt sich hier das Barock, besonders die Form des Concerto grosso, vor, um sie in die Zukunft zu führen. Im Vordergrund steht beim begnadeten Geiger Elgar natürlich die Virtuosität der Streicher. Sein Stück ist furios und lässt die Wirren der Welt mitschwingen. Nach einer Fanfare spielt Elgar mit Echo-Stimmen, komponiert das, was er eine «Teufelsfuge» nennt, inszeniert ein gigantisches Crescendo und ordnet das Chaos immer wieder in der Form des Alten.

Ebenso radikal ging der Franzose Ernest Chausson vor. Auch für ihn bildeten die «Concerts» des 18. Jahrhunderts den Ideenraum zu seinem D-Dur-Konzert op. 21. Er füllte ihn mit den Moden seiner Zeit. Natürlich orientierte Chausson sich dabei, wie viele seiner Zeitgenossen, an den chromatischen und harmonischen Errungenschaften Richard Wagners, aber auch an der Musik seines Landsmanns Hector Berlioz. Chaussons Opus 21 ist von grossen Melodie-Ideen geprägt, die zu einer Art Idée Fixe, zur französischen Form des Leitmotivs, wachsen. In den Mittelsätzen orientiert sich Chausson indes strikt an der musikalischen Form des 18. Jahrhunderts.

Lise de la Salle (c) Stephane Gallois
Lise de la Salle (c) Stephane Gallois

Sowohl Daniel Hope als auch Lise de la Salle sind Musiker, die stets mit dem Wissen um die Geschichte spielen. Und das ist bei diesem Konzert von besonderer Bedeutung. Das historische Bewusstsein ist bei der Pianistin aus Frankreich auch familiär begründet. De la Salles Mutter war Chorsängerin, ihre Grossmutter Klavierlehrerin, ihre Urgrossmutter eine russische Musikerin, die Tschaikowsky noch persönlich kennenlernte. Ihr Urgrossvater widmete sich dagegen der bildenden Kunst, war unter anderem Galerist des Malers Modigliani. Für Lise de la Salle ist Musik eine Form des Ausdrucks, den sie stets im Zusammenhang mit anderen Künsten versteht.

Lise de la Salle begann das Klavierspiel bereits mit vier Jahren und studierte ab ihrem 11. Lebensjahr am Pariser Konservatorium. Inzwischen gilt sie als besonders energische und leidenschaftliche Interpretin, die sich immer auch um die historische Stimmung ihrer Programme kümmert – also eine perfekte Besetzung für einen musikalischen Spaziergang durch das «Fin de Siècle» mitten in Europa. ab

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